Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 8: Odorokasu – Überraschung ----------------------------------- Aoi:   Es ist eigenartig befriedigend, die Finger in das Mehl zu graben, und es mit Wasser und den anderen Zutaten zu einem geschmeidigen Teig zu verarbeiten. Dinge, die erst nicht zusammenpassen wollen und sich abstoßen, werden langsam zu einer Einheit und das nur durch mich. Derart philosophische Gedanken wandern durch meine Gehirnwindungen, als mich das Surren der Türglocke aus eben diesen reißt.   „Kannst du an die Tür gehen, Rei? Ich hab die Hände voller Mehl.“   „Schrei nicht so, ich steh im Türrahmen“, erklingt Reitas Stimme rechts von mir und ich fahre zusammen, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass er auch in der Küche ist. Verdammt, ich hasse es, wenn er das tut, auch wenn ich weiß, dass das keine böse Absicht von ihm ist. Reita muss sich, genau wie ich, noch immer an unsere geänderte gemeinsame Realität gewöhnen, auch wenn ich es bin, der den Löwenanteil trägt.   „Irgendwann kaufe ich dir doch ein Halsband mit Glöckchen“, murre ich und knete den Teig fester, als es notwendig wäre. Eine Reaktion bleibt diesmal aus und ich kann Reitas Schritte auf der Treppe hören. Ich schnaube, kippe den Hefeteig und die letzten Mehlkrümel auf die Arbeitsplatte und forme alles zu einer Kugel, die ich ein letztes Mal durchknete. Es war Reitas Idee, heute Pizza zum Abendbrot zu machen, nur dass der werte Herr immer dann zwei linke Hände bekommt, wenn irgendetwas in der Küche zu tun ist. Die Gelegenheiten, zu denen Reita sein nicht unwesentliches Kochtalent auspackt, kann ich im Laufe eines Jahres an einer Hand abzählen. Ich muss schmunzeln, gut, dass Weihnachten vor der Tür steht.   Ich weiß, dass ich seine Faulheit diesbezüglich nicht unterstützen sollte, aber ich bin ja ein netter Mensch. Außerdem bin ich ihm einiges schuldig, wenn ich an meine schlechte Laune der letzten Tage zurückdenke. Daher fällt die ehrenvolle Aufgabe des Teigmachens und der weiteren Vorbereitungen heute wieder einmal mir zu. Komischerweise ist es genau diese Tatsache, die den Anflug von Missmut vertreibt, als wäre er nie da gewesen. Manchmal sind Routinen etwas Gutes und wenn ich ehrlich bin, haben wir seit Jahren eine gerechte Arbeitsteilung, was anfallende Tätigkeiten im und rund um das Haus betrifft. Was nicht heißen soll, dass es nicht Spaß macht, mich ab und an zu beschweren.   Ich lächle still vor mich hin, als ich die Teigkugel zurück in die Schüssel lege, etwas Mehl darüber verteile und alles mit einem Küchentuch abdecke, bevor ich sie in den nur lauwarm beheizten Backofen stelle. Erneut höre ich Reitas Schritte, die den alten Holzboden zum Knarren und ihn zu mir zurückbringen, während ich mir gerade die Hände wasche.   „Wer war es denn?“, frage ich, bekomme jedoch keine Erwiderung. „He, wenn du Faulpelz denkst, mir einfach nicht zu antworten, liefert dir einen Freifahrtschein, um gleich wieder im Wohnzimmer verschwinden zu können, dann hast du dich aber gehörig getäuscht. Der Salat muss noch geschnitten werden und die Beläge auch.“ Ich höre ihn glucksen und auf etwas klopfen, das sich wie etwas … Stoffbedecktes anhört? Jetzt erst sehe ich in seine Richtung, kneife ein wenig die Augen zusammen, und glaube mehr, als nur Reitas groben Umriss zu erkennen.   „Du hast Besuch“, sagt er, bevor einer der beiden Schatten verschwindet. Manchmal frage ich mich, ob ich in einer Fremdsprache rede. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Reita nur jeden zweiten oder dritten Satz aus meinem Mund beachtet?   „Reita!“, knurre ich, bevor mir klar wird, was genau er gesagt hat. Besuch? „Ehm ... Hallo?“   „Hallo Aoi“, sagt eine leise Stimme derart zaghaft, dass ich sie auf Anhieb nicht erkenne. Ich runzle die Stirn, was mein Gegenüber dazu veranlasst, für Klarheit zu sorgen. „Ich bin es … Uruha.“ Noch nie in meinem Leben haben sich wenige Sekunden der absoluten Stille so lange angefühlt, wie in diesem Augenblick. Uruha? Hier? „Ich hab dein Buch mitgebracht.“   „Du bist … ich meine, du hast … mein Buch? Oh.“ Endlich stelle ich das Wasser ab, das in den letzten Momenten ungenutzt aus dem Hahn geflossen ist, und greife nach dem Geschirrtuch, welches im Bund meiner Hose steckt. Meiner Jogginghose, die ich seit Jahren besitze, die an manchen Stellen schon gefährlich dünn geworden ist und deren ursprünglich schwarze Farbe nur noch einem müden Grau gleicht. Oh nein, was muss ich für einen Anblick bieten? Meine Haare hängen mir glatt und nicht gestylt ins Gesicht und neben eben beschriebener Jogginghose trage ich nichts weiter, als ein ebenso verwaschenes Tanktop. Bitte, darf ich im Boden versinken? Jetzt? „Das …“ Ich räuspere mich, als sich mein Entsetzen über Uruhas unerwarteten Besuch und mein unpassendes Aussehen wie Rost auf meine Stimmbänder legt. „Das ist aber nett von dir, ehm, ja, kann ich dir etwas anbieten? Wasser? Rotwein? Ich hab auch Bier im Kühlschrank.“ Oh bitte, kann nicht irgendeine Gottheit dafür sorgen, dass ich nicht noch mehr Mist daherrede?   „N… nein, danke, ich … Oh Mann, es … Ich wollte dich echt nicht stören. Es ist nur … Reita war im Laden und wollte dein Buch mitnehmen, aber Kai und Ruki haben … nun ja … auf jeden Fall hatte ich deine Adresse und dachte mir, ich könnte es dir auch persönlich vorbeibringen, aber …“ Uruhas stotternde Erklärung stoppt abrupt und ich erahne anhand seiner Bewegungen, dass er sich durch die Haare fährt. Reita war also im Kiseki, soso. Damit erübrigt sich auch die Frage, woher Uruha meine Adresse hat. Ich schüttele den Kopf – so wie ich mich in den letzten Tagen habe gehen lassen, hätte mir klar sein müssen, dass Reita irgendwann interveniert. Uruha muss meine stumme Reaktion auf sich bezogen haben, denn ein leiser Laut kommt ihm über die Lippen, den ich nicht einzuschätzen weiß. Doch bevor ich fragen oder mich erklären kann, redet er weiter. „Ich wusste, dass es eine dumme Idee war, unangekündigt vorbeizukommen. Es tut mir so leid. Ich verschwinde besser wieder. Das Buch lege ich dir auf den Küchentisch. Du kannst es bezahlen, wenn du mal wieder im Kiseki vorbeischaust, in Ordnung?“   „Nein, nein, Uruha, bitte warte, mir tut es leid. Ich …“ Ich atme tief durch und schiebe den dummen Anflug von Schamgefühl beiseite. Verdammt, Uruha ist hier, ich werde den Teufel tun und Schuld daran sein, dass er gleich wieder verschwindet. „Ich … hab nur nicht mit deinem Besuch gerechnet, bitte bleib.“   „Bist du dir sicher? Ich wollte dich wirklich nicht überrumpeln oder bei irgendetwas stören.“   „Zugegeben, dich gerade in meiner Küche stehen zu haben, ist eine echte Überraschung, aber keine, über die ich mich nicht freuen würde.“ Ich schenke ihm ein warmes Lächeln und vermeide, die Arme vor der Brust zu verschränken. „Ich hoffe, mein etwas unpassender Aufzug stört dich nicht? Ich kann mir schnell etwas anderes anziehen.“   „Mach dir wegen mir bitte keine Umstände.“ Wie gerne würde ich nun seinen Gesichtsausdruck erkennen können. Seine Worte klingen ehrlich, aber meint er sie wirklich so? „Oje“, macht er plötzlich und bevor ich mich fragen kann, was seine Aufmerksamkeit erregt hat, spricht er weiter. „Hast du dich verletzt?“   „Ich? Was meinst du?“   „Die Schiene an deinem Bein.“   „Ach, die.“ Ehrlich gesagt, habe ich das dumme Ding die letzten Tage über so gut es geht nicht beachtet. Der Fuß schmerzt kaum noch und in meiner Bewegungsfreiheit schränkt die Schiene mich weniger ein, als ich anfänglich geglaubt habe. „Ja, das …“, murmle ich zögernd und fahre mir durch die Haare. „Mich hat ein Schlagloch angegriffen und leider gewonnen.“ Für einen Moment bleibt es still, dann erklingt ein herrlich tiefes Lachen, das mir eine prickelnde Gänsehaut beschert.   „Entschuldige“, gluckst er, „Ich lache nicht wegen deines Missgeschicks, aber wie du es gerade beschrieben hast, ist bares Gold wert.“ Auch auf meine Lippen hat sich längst ein breites Grinsen geschlichen und ich stelle fest, wie sehr es mir gefällt, Uruha zum Lachen zu bringen. „Dir ist aber hoffentlich nichts Schlimmeres passiert?“ Plötzlich ist jede Belustigung aus seiner Stimme verschwunden und ich höre deutliche Besorgnis in seinen Worten.   „Nein, nein. Ich hab mir nur den Knöchel ordentlich verstaucht. In ein paar Tagen kann die Schiene schon wieder weg.“   „Zum Glück.“ Er atmet hörbar aus, dann legt sich Stille über uns. „War …“ Er räuspert sich. Ist er nervös? „Das war der Grund, warum du in der letzten Woche nicht im Laden vorbeigeschaut hast, oder?“   Mein Herzschlag beschleunigt sich und für einen Moment rauscht mein Blut so laut in meinen Ohren, dass ich mich selbst nicht mehr denken hören kann. Spricht da Hoffnung aus seinen Worten? Wollte er mich so dringend wiedersehen wie ich ihn? ‚Durchatmen, Aoi alter Junge, sei einfach ehrlich, so schwer ist das nicht.‘   „Ich habe mich für mein Missgeschick, wie du es so taktvoll genannt hast, tierisch geschämt und ja, das ist mit ein Grund, warum ich mein Versprechen gebrochen habe.“   „Dein Versprechen“, haucht er so leise, dass ich vermute, seine verbale Reaktion war eher nicht für meine Ohren bestimmt. Ich drehe mich kurz zur Arbeitsfläche um und lege das Geschirrtuch beiseite – die beste Tarnung, um ihn das feine Lächeln auf meinen Lippen nicht sehen zu lassen. „Das kann ich verstehen“, sagt er schließlich in verständlicher Lautstärke, „auch wenn ich dich wirklich gern wiedergesehen hätte.“ Oh mein Gott, meine Ohren müssen in Flammen stehen.   „Ehm ja … ich wäre auch gern vorbeigekommen.“ Meine Finger zucken an meinen Seiten, weil ich mir wahlweise selbst eine runterhauen möchte oder mein Gesicht hinter den Händen verstecken. Was ist denn nur los mit mir? Ich bin sonst nie auf den Mund gefallen, aber gerade hätten meine Worte nicht ungeschickter ausfallen können, hätte ich es darauf angelegt. Eine kleine Stimme in meinem Kopf, die sich verdächtig nach Reita anhört, erliegt röchelnd dem Erstickungstod durch zu viel Gelächter. Zu verübeln ist es ihr nicht; ich stelle mich an wie der letzte Verlierer. „Würdest du mir das Buch mal in die Hand geben, bitte?“, versuche ich es mit Schadensbegrenzung via Themenwechsel und scheine sogar Erfolg damit zu haben. Ich höre, wie Uruha näherkommt und endlich schält sich auch sein Gesicht aus dem Körper meiner Wahrnehmung, wird zu mehr als nur vagen Umrissen. „Hi“, sage ich, als ich sein Gesicht erahnen kann, und umfasse das Buch, das er mir in die Hand drückt.   „Hi.“ Ich kann das Lächeln auf seinen Lippen nicht mehr nur hören … und es ist so verflucht schön. Meine erste Reaktion ist, wegzusehen, aber ich schaffe es ganze drei harte Herzschläge lang, diesem Drang zu widerstehen. Schlussendlich fällt mein Blick auf den dicken Wälzer, den Uruha mir in die Hand gedrückt hat und ich staune nicht schlecht.    „Wow, ich hab ja schon davon gehört, dass sich Iwakami mit der Länge des neuen Bandes mal wieder selbst übertroffen hat, aber damit, dass er gleich so dick ist, hab ich nicht gerechnet.“ Uruha lacht leise und lehnt sich neben mir gegen die Arbeitsplatte.   „So hab ich auch reagiert.“   „Hast du schon reingelesen?“   „Nein, ich bin noch nicht dazugekommen.“   „Sehr gut, dann hast du also keinen Vorteil mir gegenüber.“   „Nein, sieht nicht so aus. Wobei habe ich dich eigentlich gerade gestört?“   „Gestört? Bei nichts, aber wenn du wissen willst, womit ich beschäftigt war, lautet die Antwort Pizzateig.“   „Was, ehrlich? Selbstgemacht?“   „Ja, ist nicht viel dabei, nur alle Zutaten zu einem Teig verkneten und warten, bis er aufgegangen ist.“   „Das sagst du so einfach, ich hab zwei linke Hände, wenn es ums Kochen geht.“   „Wo habe ich das nur schon mal gehört?“   „Was meinst du?“   „Der liebe Herr Reita nutzt diese Ausrede auch regelmäßig, um sich vor der Küchenarbeit zu drücken, obwohl ein kleiner Chefkoch in ihm schlummert.“   „Ich würde das nie als Ausrede verwenden. Ich kann es wirklich nicht.“   „Dann würde ich sagen, es wird Zeit, dich weiterzubilden.“ Ich lege das Buch über mir in ein Regal, damit es nicht schmutzig wird, und reibe mir vorfreudig die Hände. Grinsend drehe ich mich wieder Uruha zu und deute in Richtung des Kühlschranks. „Sei so lieb und hol mal alles, was sich für einen Salat und als Belag für die Pizza eignet aus dem Kühlschrank und leg es auf den Tisch dort, ja?“   „Ich … ehm … okay?“   Mein Grinsen wird noch breiter, als Uruha pflichtschuldig und ohne Widerworte meiner Aufforderung folgt, und ich beschließe spontan, dass Reita und ich heute nicht allein zu Abend essen werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)